Mittleres Reich: Von Angesicht zu Angesicht - Die Skulpturen

Mittleres Reich: Von Angesicht zu Angesicht - Die Skulpturen
Mittleres Reich: Von Angesicht zu Angesicht - Die Skulpturen
 
So leicht es dem Laien fallen mag, altägyptische Kunstwerke als ägyptisch zu identifizieren, so schwierig ist es bisweilen sogar für den Fachmann, ihr genaues Entstehungsdatum zu bestimmen. Umfangreich ist die Liste der Statuen und Statuenköpfe, die im Lauf der Geschichte der Ägyptologie ihre Datierung geändert haben. Dabei ging und geht die Diskussion nicht nur um Feindatierungen, sondern es stehen Jahrhunderte zur Debatte wie beim Berliner »Grünen Kopf« oder gar Jahrtausende, wenn zwischen Original und klassizistischer Arbeit der Spätzeit zu unterscheiden ist.
 
Diese in der Kunstgeschichte ungewöhnliche Situation liegt in einem Charakteristikum der altägyptischen Kunst begründet, das für die gesamte Kultur Altägyptens gelten darf: in der einzigartigen Kontinuität, die mehr als drei Jahrtausende umspannt. Die zu Beginn der ägyptischen Geschichte in der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. ausformulierten Grundzüge der Kunst und der Schrift, der Religion und des nationalen Selbstverständnisses haben sich bis zum Ende Altägyptens unter den römischen Kaisern nicht grundlegend geändert.
 
Episodenhaft heben sich einige Phasen der Kunstgeschichte Ägyptens von diesem einheitlichen Hintergrund ab und entwickeln ein ausgeprägt eigenständiges Profil. Zu ihnen gehört das Jahrhundert von 1850 bis 1750 v. Chr., das späte Mittlere Reich. Die Bildnisse von Königen und Privatleuten, die in diesen Jahrzehnten geschaffen wurden, sind in ihrem offenkundig individualisierenden Stil eine Werkgruppe, die sich vom idealisierenden Menschenbild früherer - und späterer - Epochen deutlich unterscheidet.
 
Diese stilistische Entwicklung kommt nicht von ungefähr. Nach dem Zerfall des Alten Reiches am Ende des 3. Jahrtausends war gegen 2000 v. Chr. in einer Region, die bislang nur wenig Bedeutung besessen hatte, in Theben in Oberägypten, ein junges Herrschergeschlecht an die Spitze von ganz Ägypten getreten, dessen Legitimation nicht historisch und dynastisch fundiert war, sondern sich auf politische und militärische Macht gründete. Das auf Eigenverantwortlichkeit bauende Selbstverständnis dieser Epoche weist dem Individuum eine Rolle zu, die sich nicht auf den Vollzug einer ritualisierten Geschichte beschränkt, sondern aktiv ins Weltgeschehen eingreift.
 
Außenpolitisch ist diese Zeit geprägt durch die militärische Abgrenzung Ägyptens gegen Vorderasien und durch die Expansion nach Süden bis zum zweiten Katarakt. Innenpolitisch ist der König nicht mehr wie im Alten Reich ein unumschränkter Landesherr, sondern sieht sich machtvollen Gaufürsten und selbstbewussten, kritischen Bürgern gegenübergestellt. Die Literatur des Mittleren Reiches legt von dieser neuen Bewusstseinslage beredtes Zeugnis ab.
 
Aus der bildenden Kunst ist der allein an der Residenz orientierte Stil verschwunden; an seine Stelle treten lokal unterschiedliche Stilrichtungen, die es erstmals in der ägyptischen Kunstgeschichte gestatten, von »Schulen« zu sprechen und zum Beispiel thebanische von memphitischen Werken zu unterscheiden.
 
Die Individualisierung der Kunst resultiert auch aus einer neuen Funktionsbindung des Kunstwerks. Waren die Statuen des Alten Reiches fast ausschließlich Grabfiguren, die unsichtbar im Serdab, der Statuenkammer des Grabes, eingeschlossen waren und ihren Sinn in ihrer Anwesenheit im Grab fanden, so sind die Statuen des Mittleren Reiches meist Tempelstatuen, die in Tempelhöfen sichtbar aufgestellt werden und in ihren hieroglyphischen Texten die Tempelbesucher ansprechen. Diese neue Extrovertiertheit äußert sich im Stil dieser Figuren, im Interesse des Künstlers am individuellen Gesicht. Neuartig ist auch die Abkehr vom alterslosen Idealbild, an dessen Stelle die Darstellung des vom Leben gezeichneten Gesichtes tritt.
 
Gänzlich neu sind diese typischen Züge der Kunst des Mittleren Reiches jedoch nicht. Seit dem frühen 3. Jahrtausend stehen inmitten eines generell idealisierenden Menschenbildes vereinzelt Werke von herausragender Persönlichkeitsprägung. Die Büste des Anch-haf und die Sitzfigur des Hem-iunu, beide aus der Familie des Königs Cheops, sind als die frühesten gleichzeitig auch die extremsten Individualporträts. Was ihnen fehlt, ist die Öffentlichkeit der Selbstdarstellung, die in der Skulptur des Mittleren Reiches nicht nur durch die Aufstellung im Tempelhof, sondern auch durch die Dimensionen der Figuren zum Ausdruck kommt. Viele der Königsstatuen der 12. Dynastie sind in ihren monumentalen Abmessungen von mehrfacher Lebensgröße - bis hin zu den nur in kleinen Fragmenten erhalten gebliebenen Sitzfiguren Amenemhets III. von Biahmu im Faijum mit nahezu zwanzig Metern Höhe - eine Vorwegnahme der Kolossalplastik der Könige des Neuen Reiches, insbesondere Amenophis' III. und Ramses' II. In zahlreichen Fällen bedienen sich diese Herrscher sogar der alten Statuen des Mittleren Reiches, um sie durch Neubeschriftung und bisweilen auch stilistische Umarbeitung zu reaktualisieren und wiederzuverwenden.
 
Die Aktualität der Statuen des Mittleren Reiches liegt für den heutigen Betrachter in ihrem Verzicht auf das Zeitlose. Sie zeigen nicht jene Unnahbarkeit, die die Königsbildnisse eines Chephren oder Tuthmosis III. Tuthmosis III. so übermenschlich erscheinen lässt, sondern sie kehren die Sterblichkeit des Dargestellten nach außen. Darin treffen sich diese Bildnisse mit einer anderen besonders interessanten Phase der Kunstgeschichte Ägyptens, mit der Amarnazeit um Echnaton und Nofretete. Ist es im Mittleren Reich das Altersbildnis, in dem sich das Interesse des Künstlers an der Veränderung des Menschen im zyklischen Wandel der Lebensalter artikuliert, so gilt die Aufmerksamkeit der Amarnakunst vor allem dem kindlichen und jugendlichen Alter. Der Liebreiz der Gesichter der Amarna-Prinzessinnen ist ebenso vergänglich wie das Faltenspiel in den altersgeprägten Physiognomien Sesostris' III. oder Amenemhets III. In beiden Werkgruppen wird durch die Darstellung einer der Veränderung unterworfenen Altersstufe eine innere Dynamik erzeugt, eine latente Spannung visualisiert, die über die dargestellte Lebensphase hinausweist und die Zukunft zum Thema macht.
 
Im Zentrum der Kunst des Mittleren Reiches steht das menschliche Gesicht. Zwar sind, wie zu allen Epochen Ägyptens, die Darstellungen des Menschen auch im Mittleren Reich stets Ganzkörperfiguren - die Sonderformen der Ersatzköpfe des Alten Reiches oder der Büsten des Neuen Reiches sind nicht belegt -, aber ihre Körperlichkeit ist in der Privatplastik oft reduziert auf ein schwellendes plastisches Volumen, das unter einem straffen, glatten Mantel die Körperhaltung des Stehens, Sitzens oder Hockens zur hieroglyphischen Chiffre reduziert. Die Lebendigkeit der Gesichter wird durch diese formale Reduktion der übrigen Figur nachhaltig unterstrichen. Auch die Königsplastik bedient sich im Typus der Osirispfeiler dieses Gegensatzes.
 
Die außergewöhnlich hohe Qualität der Privatplastik des Mittleren Reiches gibt Anlass, das Verhältnis von königlicher und nichtköniglicher Kunst näher zu betrachten. Gemeinhin wird dieses Verhältnis so dargestellt, dass in den Residenzwerkstätten die künstlerischen Standards geschaffen werden, an denen sich die Kunstproduktion im ganzen Land orientiert. Zumindest für die Zeit des Mittleren Reiches sind Zweifel an diesem Modell angebracht. Die Spitzenleistungen der Privatplastik entstehen weitab von der Hauptstadt Memphis. Aus Assiut in Mittelägypten kommen die überlebensgroßen Statuen des Gaufürsten Djefaihapi und seiner Frau Sennui und das wohl reifste Werk der Rundplastik der 12. Dynastie, die Sitzfigur des Chertihotep. Auf der Insel Elephantine an der Südgrenze Ägyptens war eine Bildhauerschule beheimatet, die über drei Jahrhunderte ihren eigenen Stil pflegte. Theben, die Wiege des Mittleren Reiches, blieb nach der Verlegung der Residenz nach Memphis künstlerisch eigenständig. Memphis hingegen, die Hauptstadt, war künstlerisch wenig kreativ und konzentrierte sich auf eine klassizistische Fortentwicklung der Traditionen des Alten Reiches.
 
Die Streuung qualitativ herausragender Werkstätten über das ganze Land zeichnet das Mittlere Reich gegenüber dem Alten Reich, das künstlerisch ganz auf Memphis fixiert war, und dem Neuen Reich aus, das neben Memphis nur noch in der Metropole Theben künstlerisch Außergewöhnliches schuf.
 
Wenn für den modernen Betrachter die Kunst des Mittleren Reiches in der Unmittelbarkeit des Ausdrucks ihrer Porträts eine Sternstunde in der Geschichte des Individuums ist, so trifft sich das mit der Einschätzung dieser Epoche des frühen zweiten Jahrtausends v. Chr. seitens der Ägypter selbst. Für sie waren Sprache, Schrift und Literatur dieser Zeit klassische Vorbilder; die Kunst des Mittleren Reiches hat stilbildend auf das frühe Neue Reich und auf die Spätzeit eingewirkt; der religiöse Wandel zum osirianischen Auferstehungsglauben, der sich im Mittleren Reich vollzog, blieb fortan die Grundlage altägyptischer Jenseitshoffnung. Die geistige Evolution des Mittleren Reiches, wie sie sich im Menschenbild der Kunst dieser Epoche ausprägt, vollendete den zivilisatorischen Aufbruch des Alten Reiches und gab Ägypten sein bleibendes Gesicht.
 
Prof. Dr. Dietrich Wildung

Universal-Lexikon. 2012.

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